Wie funktioniert DAS REICH?

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Wie funktioniert DAS REICH?

In letzter Zeit tauchen vermehrt Videos und Artikel auf, die sich mit dem Preußischen Staat und dem Deutschen Reich beschäftigen und in denen die rechtlichen Zusammenhänge schlicht falsch dargestellt werden. Das Preußenjournal nimmt dies zum Anlaß, einen Abschnitt aus dem wichtigen Werk „Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie“ des Staatsrechtlers Dr. Ludwig Rönne wieder zu geben. Die rechtliche Stellung Preußens lässt sich – abgesehen von der Eigenschaft des Präsidialstaates Preußens – auf jeden anderen Einzelstaat des Deutschen Reiches übertragen.

Die staatsrechtliche Stellung des Preußischen Staates im Deutschen Reiche.

I. Der auf der „Verfassung des Deutschen Reiches“ begründete Bundesstaat ist aus zweiundzwanzig Monarchien und drei Republiken zusammengesetz, sein im Eingang der Verfassung bezeichnete Zweck ist: „zum Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege und Wohlfahrt des Deutschen Volkes“. Dieser Bund ist ein Staat und als solcher begriffsgemäß unauflöslich, sodass keiner der zum Bunde gehörigen Einzelstaaten und kein Teil der Einzelstaaten aus dem Bunde austreten kann; die rechtliche Möglichkeit eines solchen Austritts ist bei der Staatsnatur des Bundesstaates unkonstruierbar.

Derselbe führt, wie die Verfassungsurkunde (im Eingange derselben) bestimmt, den Namen Deutsches Reich, und dieses Deutsche Reich hat die rechtliche Natur eines Bundesstaates mit vollständig staatlichem Charakter und einer wirklichen Zentralgewalt. Die Zuständigkeit der Staatsgewalt in dem in Gemäßheit der Bundesverträge in Leben getretene Bundesstaat ist jedoch nicht, wie im Einheitsstaate, eine ungeteilte, sondern zerfällt in zwei Sphären, deren eine der Zentralgewalt des Reiches, die andere der Staatsgewalt der Einzelstaaten zugeteilt ist. Diese verfassungsmäßige Verteilung der staatlichen Zuständigkeit ist eine notwendige Folge des Charakters als Bundesstaat; es sind aber die Zentralgewalt und die Gewalt der Einzelstaaten einander nicht nebengeorgnet, sondern die erstere ist der letzteren übergeordnet.

Der Zentralgewalt (dem Reich) steht außer der der ihr ausschließlich zugewiesenen Sphäre der Staatstätigkeit auch die Beaufsichtigung und Kontrolle der Tätigkeit der Einzelstaaten innerhalb der diesen verbliebenen Sphäre insofern zu, als die Reichsgewalt berechtigt ist, die Tätigkeit der Einzelstaaten so zu beeinflussen, dass sie sich stets mit dem Organismus des Gesamtstaates im Einklang erhält.

Bundesstaat und Gliedstaaten

Der Bundesstaat und seine Gliedstaaten.

Die Einzelstaaten aber haben ihre Selbstständigkeit nicht nur in der Verwaltung gewisser Angelegenheiten, sondern auch insofern behalten, dass sie innerhalb ihrer Sphäre insbesondere auch das Gesetzgebungsrecht besitzen; jedoch kann das Reich jederzeit auf legalem Wege seine Kompetenz erweitern und dadurch die Einzelstaaten in ihrer Gesetzgebung noch weiter beschränken; die Einzelstaaten haben dem Reichsgesetz lediglich zu gehorchen. Dieses gilt für den Preußischen Staat in gleicher Weise, wie für alle übrigen Einzelstaaten des Deutschen Reiches; derselbe ist nicht nur in seiner Kompetenz vielfach durch die Kompetenz des Reiches beschränkt, sondern steht auch in einem Verhältnis allgemeiner verfassungsmäßiger Unterordnung zur Reichsgewalt, und dies gilt sowohl in völkerrechtlicher Beziehung als in Beziehung auf die inneren staatsrechtlichen Angelegenheiten.

Wie jeder andere deutsche Einzelstaat, ist auch der Preußische Staat ein Gliedstaat des Deutschen Reiches, und sein Landesstaatsrecht verhält sich zu dem deutschen Reichsstaatsrechte ebenso wie das eines jeden anderen deutschen Staates. Die Rechte und Pflichten, welche zufolge der Reichsverfassung für alle Gliedstaaten des Reiches gegenüber der Gesamtpersönlichkeit des Reiches bestehen, die aus der Kompetenz des Reiches fließenden Beschränkungen der Kompetenz der Einzelstaaten, gleichwie die Rechte der letzteren gegenüber dem Reiche, sind grundsätzlich für alle Einzelstaaten dieselben, ebenso wie auch alle Lasten und Pflichten nach dem Grundsatze der Gleichberechtigung von allen Mitgliedern des Reiches getragen werden. Während aber einzelnen Mitglieder in ihrem Verhältnisse zur Gesamtheit verfassungsmäßig gewisse Reservatrechte als Ausnahmen vorbehalten sind, wodurch ihnen gegenüber die Kompetenz der Reichsgewalt in einer von der verfassungsmäßigen Norm abweichenden Weise beschränkt wird, steht dem Preußischen Staate kein einziges Sonderrecht dieser Art zu; andererseits aber hat die Reichsverfassung selbstverständlich Preußen, als dem weitaus größten Einzelstaate, einen größeren Einfluss auf die staatliche Willensbildung des Reiches eingeräumt als den übrigen Gliedstaaten.

Dem Könige von Preußen, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt, steht vor allem nach Art. 11 der Reichsverfassung das Präsidium des Bundes zu, und hierin sind alle Vorrechte enthalten, welche dem Kaiser verfassungsmäßig gebühren. Diese Vorrechte sind aber keine persönlichen Vorrechte des Kaisers, sondern untrennbar mit der Krone Preußen und dem Preußischen Staate verbunden, welcher somit nicht bloß ein einfacher Gliedstaat, sondern der Präsidialstaat (Hegemoniestaat) des Deutschen Reiches ist. Diese mit der Krone Preußen untrennbar verbundenen Kaiserlichen oder Präsidialrechte sind indes keine Bestandteile der preußischen Staatsgewalt, sondern der selbständigen deutschen Reichsgewalt.

Während der Preußische Staat zur Zeit des Bestehens der vormaligen Deutschen Bundes nicht mir seinem gesamten Gebiete diesem letzteren angehörte, indem die Provinzen Preußen (Ost- und Westpreußen) und Posen bundesfreies Gebiet bildeten, gehört jetzt das ganze preußische Staatsgebiet zum Gebiete des neuen Deutschen Reiches.

II. Die Organe der Staatsgewalt des Reiches sind:

1) Der Bundesrat,
welcher aus den Bevollmächtigten der Mitglieder des Bundes, d.h. der Einzelstaaten, besteht und daher der Repräsentant des Trägers der Reichsgewalt ist.

2) der Kaiser,
welcher nicht als Souverän des Reiches, sondern als ein bevorrechtigtes Mitglied erscheint, und welcher die ihm übertragenen Befugnisse nicht im eigenen Namen, sondern im Namen des Reiches oder „der verbündeten Regierungen“ ausübt.

3) der Reichstag,
welcher kein selbständiger Träger der Reichsgewalt, sondern ein dieselbe beschränkendes Element ist, an dessen Mitwirkung die verbündeten Regierungen bei der Ausübung gewisser Funktionen, insbesondere der Gesetzgebung, gebunden sind.

4) die Reichsbehörden und Reichsbeamten,
welche ihre Befugnisse aus der Reichsgewalt ableiten und nur innerhalb eines begrenzten Kreises von Angelegenheiten tätig sind.

Kaiser Wilhelm Denkmal

Das erste Präsidium des Bundes: Wilhelm I.

1. Das Verhältnis Preußens zum Deutschen Kaisertum betreffend, so hatte bereits die Verfassung des Norddeutschen Bundes dem König von Preußen die wesentlichen Befugnisse eines Bundesoberhauptes beigelegt, ohne jedoch diese Befugnisse unter einer einheitlichen Bezeichnung zusammenzufassen. Der Artikel 11 dieser Verfassung bestimmte, dass das Präsidium des Bundes der Krone Preußen zustehe; Artikel 11 der Reichsverfassung schuf sodann hierfür den Kaisertitel. Unter dieser Bezeichnung legte die Verfassung dem König von Preußen eine Reihe von Befugnissen der Bundesgewalt bei, denen weiterhin noch andere durch die Verfassung geordnete Kaiserrechte hinzutraten.

Insbesondere steht dem Kaiser als Bundesfeldherrn der Oberbefehl über die gesamte Landmacht des Bundes, die Oberaufsicht über die Vollzähligkeit und Kriegstüchtigkeit aller Truppenteile, das Recht der Inspektion derselben, ferner, insoweit hierfür nicht gesetzliche Vorschriften bestehen, die Bestimmung des Präsenzstandes, der Gliederung und der Einteilung des Reichsheeres, sowie die Organisation der Landwehr, die Bestimmung der Garnisonen, die Anordnung der kriegsbereiten Aufstellung eines jeden Teiles des Reichsheeres, ferner das Recht, Festungen innerhalb des Bundesgebietes anzulegen, sowie auch das Recht, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand (Artikel 68 der Reichsverfassung) zu erklären, zu. Der Oberbefehl des Kaisers umfasst im Kriege – vom Moment der Mobilmachung ab – alle deutschen Truppen; im Frieden stehen die bayerischen Truppen unter dem Oberbefehl des Königs von Bayern.

Die deutsche Kaiserwürde haftet, zufolge Artikel 11 der Reichsverfassung, an dem Besitze der preußischen Krone, mit welcher sie dergestalt untrennbar verbunden ist, sodaß niemand jemals Reichsoberhaupt in Deutschland sein kann, der nicht zugleich Staatsoberhaupt in Preußen ist. Der Erwerb der preußischen Krone aber richtet sich lediglich nach den Vorschriften des preußischen Staatsrechtes. [Deshalb besitzen allein die Preußen den Schlüssel zum Frieden.]

Was die äußeren (auswärtigen) Angelegenheiten betrifft, so ist der König von Preußen in seiner Eigenschaft als Deutscher Kaiser der alleinige Repräsentant des Deutschen Reiches in allen internationalen Beziehungen des letzteren, indem der Art. 11, Absatz 1 der Reichsverfassung bestimmt, dass der Kaiser das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen hat. Es haben somit alle Einzelstaaten des Reiches, und insbesondere auch Preußen, auf diesem Gebiete ihre Hoheitsrechte im wesentlichen an das Reich abgetreten. Das Reich hat allein das Recht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, und das Reich allein, mit Ausschluss der Einzelstaaten, ist befugt, bei der Ordnung rein auswärtiger Angelegenheiten, insbesondere allgemeiner europäischer Fragen, mitzuwirken.

Bundesratssitzung 1894

Sitzung des Bundesrates 1894

2. Der Bundesrat besteht, wie der Artikel 6 der Reichsverfassung ausspricht, aus den Vertretern der „Mitglieder des Bundes“; Mitglieder des Bundes aber sind, wie der Artikel 1 der Reichsverfassung ergibt, prinzipiell die daselbst aufgeführten „Staaten“, als deren Repräsentanten die Fürsten, beziehungsweise die Senate der freien Städte die Mitgliedschaft ausüben. Da die Souveränität auf das Reich übergegangen ist; da das Reich die Einheit der verbündeten Staaten ist; da die Souveränität eines persönlichen Trägers bedarf; da demgemäß Träger der Reichssouveränität die juristische Einheit der Träger der Landessouveränitäten ist, so ergibt sich, dass an der persönlichen Souveränitätsstellung der Landesherren grundsätzlich nichts geändert ist; ihr Vollmachtsorgan ist der Bundesrat, der somit staatsrechtlich als Repräsentant des Trägers der Reichssouveränität erscheint.

Die Bevollmächtigten zum Bundesrate vertreten formell nur ihre Vollmachtgeber, nämlich die Fürsten, beziehungsweise die Senate; materiell aber vertreten sie die Staaten, da die Fürsten, beziehungsweise die Senate, nur in ihrer Eigenschaft als Staatsoberhäupter zur Erteilung der Vollmacht kompetent sind, und in diesem Sinne sind im Bundesrate nur die Staaten vertreten. Die Verteilung der Stimmen im Bundesrat des Norddeutschen Bundes war nach Maßgabe der Bestimmungen für das Plenum des vormaligen Deutschen Bundes geregelt, jedoch so, dass Preußen die ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt zugerechnet wurden. Von dieser Grundlage wich indes schon der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 insofern ab, als Bayern im Zollbundesrate 6 Stimmen, statt 4, beigelegt wurden. Diese Bestimmungen sind demnächst in die Verfassung des Deutschen Reiches übergegangen, und demgemäß führen jetzt im Bundesrate Preußen 17, Bayern 6, Sachsen und Württemberg je 4, Baden und Hessen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je 2, alle anderen Staaten je eine Stimme, sodass also die Gesamtheit der Stimmen 58 beträgt.

Jedes Mitglied des Bundes kann so viele Bevollmächtigte zum Bundesrate ernennen, wie es Stimmen hat, – Preußen also 17; da aber die Stimmen nicht Stimmen der einzelnen Bevollmächtigten, sondern der Mitglieder des Bundes sind, so darf die Gesamtheit der zuständigen Stimmen nur einheitlich abgegeben werden. Die Personen, wodurch welche die Einzelstaaten des Bundes ihre Teilnahme am Bundesrat ausüben, sind „Bevollmächtigte“ oder „Vertreter“, welche nicht nach eigenem Ermessen und persönlichen Ansichten, sondern lediglich nach den ihnen erteilten Instruktionen zu stimmen haben, sodass also in den Abstimmungen der Bevollmächtigten zum Bundesrate der Staatswillen des betreffenden Bundesmitgliedes zum Ausdruck kommt. Die Erteilung der Instruktion für die Bevollmächtigten geht von der Regierung ihres Einzelstaates aus; ob der Volksvertretung hierauf eine Einwirkung zusteht, ist eine offene staatsrechtliche Frage.

Reichskanzler Otto von Bismarck

Reichskanzler Otto von Bismarck

Der Vorsitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte desselben steht dem Reichskanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist (Art 15 Abs. 1 der Reichsverfassung). Diese Ernennung ist jedoch kein preußisches, sondern ein Kaiserliches Recht. Daß der Reichskanzler zugleich Bevollmächtigter im Bundesrate sein muss, folgt daraus, dass er sonst nicht im Bundesrate mitstimmen und beschließen könnte. Bundesratsbevollmächtigte für Preußen kann aber nur der König von Preußen, nicht der Deutsche Kaiser, ernennen, und da alle Bevollmächtigten zum Bundesrate nur von ihren Machtgebern abhängig sind und von diesen jederzeit abberufen werden können, so ist es eine notwendige Folge der Reichsverfassung, dass der Vorsitzende im Bundesrate, der Reichskanzler, zugleich preußischer Bundesratsbevollmächtigter sein muss, obgleich die Reichsverfassung eine ausdrückliche Vorschrift hierüber nicht enthält.

Während das staatsrechtlich Verhältnis Preußens zum Bundesrate im allgemeinen kein anderes ist als dasjenige aller übrigen Einzelstaaten, so folgt doch daraus, dass Preußen 17 Stimmen im Bundesrate führt, dass es jeder Veränderung der Reichsverfassung, welche gegen seinen Willen beabsichtigt sein sollte, unmöglich machen kann, da nach Artikel 78, Absatz 1 der Reichsverfassung Veränderungen der Verfassung schon dann als abgelehnt gelten, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich haben. Dem Kaiser als solchem steht kein Veto in betreff eines vom Bundesrate beschlossenen oder vom Reichstage ausgegangenen Gesetzesentwurfes zu; indes gewährt die Reichsverfassung dem Einzelstaate Preußen in gewissen Fällen das Recht, Neuerungen zu verhindern, indem er im Schoße des Bundesrates Widerspruch dagegen erhebt. Die Reichsverfassung bestimmt nämlich im Artikel 5, Absatz 2, dass bei Gesetzesvorschlägen über das Militärwesen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 der Reichsverfassung bezeichneten Abgaben, wenn im Bundesrate eine Meinungsverschiedenheit stattfindet, die Stimme des Präsidium den Ausschlag gibt, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden Einrichtung ausspricht. Ein gleiches Recht des Widerspruches wie bei Gesetzesvorschlägen steht zufolge Artikel 37 der Reichsverfassung Preußen auch bei der Beschlussnahme des Bundesrates über die zur Ausführung der gemeinschaftlichen Gesetzgebung über Zollwesen und Verbrauchssteuern (Art. 35. a.a.O.) dienenden Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, also bezüglich den „Verordnungen“ des Bundesrates auf diesem Gebiete, zu.

Es können daher gegen den Widerspruch Preußens vom Bundesrate weder Gesetzesvorschläge noch Ausführungsverordnungen beschlossen werden, welche das Zollwesen, die Besteuerung des im Bundesgebietes gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen dargestellen Zuckers und Sirups, den gegenseitigen Schutz der in den einzelnen Bundesstaaten erhobenen Verbrauchsabgaben gegen Hinterziehungen, sowie Maßregeln, welche in den Zollausschüssen zur Sicherung der gemeinschaftlichen Zollgrenze erforderlich sind, betreffen; vielmehr gibt in allen diesen Angelegenheiten die Stimme Preußens stets den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der bestehenden Vorschrift oder Einrichtung ausspricht. Unter dem im Art. 5, Abs. 2 und im Art. 37 der Reichsverfassung gebrauchten Ausdrucke: „bestehenden Einrichtungen“ sind übrigens nicht bloß die auf „Gesetzesvorschriften“ beruhenden, sondern auch solche Einrichtungen zu verstehen, welche nicht auf ausdrücklichen Gesetzen beruhen, sondern nur tatsächlich bestehen.

Reichstagseröffnung 1871

Reichstagseröffnung am 16. Oktober 1871

3. Während der Kaiser und der Bundesrat die Träger der Regierungsgewalt des Reiches sind, ist der Reichstag das Organ der Volksvertretung. Ihm steht bei den wichtigsten Gegenständen der Reichsregierung eine bestimmte Mitwirkung zu, er hat aber keine obrigkeitlichen Befugnisse und ist nicht Mitträger der Regierungsgewalt. Dagegen sind die Träger der letzteren, nämlich der Kaiser und der Bundesrat, bei der Reichsregierung teils an die Zustimmung des Reichstages gebunden, teils seiner Kontrolle unterworfen. Da jedoch der Reichstag gegenüber den Einzelstaaten, sowie den einzelnen Staatsangehörigen, nur mittelbar wirksam werden kann, so besteht zwischen dem Reichstage und den Einzelstaaten kein weiteres staatsrechtliches Verhältnis, als dass auf jeden Einzelstaat eine gewisse Anzahl von Abgeordneten (auf Preußen 235 von 397) verteilt ist, welche aber nicht als Vertreter der Bevölkerung des Einzelstaates, sondern des gesamten deutschen Volkes erscheinen und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden sind.

4. Obgleich das Deutsche Reich in vielen Zweigen seiner Zuständigkeit die Ausführung seiner Gesetze und Verordnungen den Einzelstaaten überlässt, deren Behörden alsdann mit dem Vollzuge der Reichsgesetze betraut sind, so werden doch hierdurch die Landesbehörden, insbesondere auch die betreffenden preußischen Behörden, nicht zu Reichsbehörden, da sie an sich ihre staatliche Autorität nicht vom Reiche, sondern von der Staatsgewalt des Einzelstaates erhalten haben. Die Reichsgewalt ist aber, zufolge ihres bundesstaatlichen Charakters, bei der Ausführung ihrer staatlichen Funktionen nicht notwendig an die Vermittlung der Landesbehörden gebunden, sondern hat auch das Recht, eigene Behörden und Beamte zur Verwirklichung ihrer Aufgaben zu bestellen, welche dann ihre obrigkeitliche Autorität lediglich vom Reiche empfangen. Es besteht also auch im Preußischen Staate ein von den preußischen Behörden gesondertes Behördensystem des Deutschen Reiches, an dessen Spitze der Reichskanzler steht. Das aber im Amt des letzteren verfassungsmäßig mit der Stellung eines preußischen Bevollmächtigten verbunden ist, so gehört derselbe dem Preußischen Staate an und erhält seine Instruktionen für seine Stellung als Mitglied des Bundesrates von dem König von Preußen durch die Vermittlung des preußischen Staatsministeriums.

Der Preußische Staat nimmt im übrigen zu dem Behördensystem des Reiches ganz dieselbe Stellung ein wie die übrigen Einzelstaaten des Reiches und steht in der verfassungsmäßigen Unterordnung unter die Reichsbehörden; eine engere Verbindung der preußischen Staatseinrichtungen mit den Institutionen des Deutschen Reiches zeigt aber insofern, als einige preußische Behörden zugleich als deutsche Reichsbehörden verwendet werden. Diese sind deshalb nicht aber nicht als mittelbare Reichsbehörden anzusehen, sondern als preußische Behörden, welche gleichzeitig Reichsbehörden sind, indem sie für den in Rede stehenden bestimmten Kreis ihrer Tätigkeit die staatliche Ermächtigung von der Reichsgewalt empfangen und nicht unter einem preußischen Ministerium, sondern unter dem Reichskanzler stehen.

III. Die Kompetenz des Reiches gegenüber den Einzelstaaten ist in der Art geordnet, dass die Zuständigkeit des Reiches verfassungsmäßig bestimmt ist, und dass alle Befugnisse, welche nicht dem Reiche überwiesen sind, den Einzelstaaten verbleiben, jedoch mit der Maßgabe, dass das Reich seine Kompetenz jederzeit erweitern kann auf dem legalen Wege der Verfassungsänderung: grundsätzlich ist somit die Kompetenz des Reiches unbeschränkt (Art. 4 und Art. 78 der Reichsverfassung). Der ausschließlichen Kompetenz des Reiches unterliegen selbstverständlich die Anordnungen über die Verfassung des Reiches, die Organisation, die Amtsbefugnisse und die Pflichten seiner Behörden, die rechtliche Stellung seiner Beamten, die Bildung des Reichstages (Wahlrecht) und die Rechte und Pflichten der Abgeordneten, die Finanzwirtschaft des Reiches, die Verwaltung der Reichsanstalten und das Verhältnis der einzelnen Bundesglieder zum Reiche.

Alle diese Gegenstände unterliegen ihrer Natur nicht der Kompetenz der Einzelstaaten, sondern setzen die Verbindung der Einzelstaaten zum Bundesstaate – dem Reiche – voraus und können daher auch nur von diesem geregelt werden. Die Reichsverfassung hat außerdem in ausdrücklicher Aufzählung diejenigen Angelegenheiten aufgeführt, welche der Gesetzgebung des Reiches und der Beaufsichtigung desselben unterliegen. Diese sind (Art. 4 der Reichsverfassung) folgende:

1. die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimaths- und Niederlassungs-Verhältnisse, Staatsbürgerrecht, Paßwesen und Fremdenpolizei und über den Gewerbebetrieb, einschließlich des Versicherungswesens, soweit die Gegenstände nicht schon durch den Artikel 3. dieser Verfassung erledigt sind, in Bayern jedoch mit Ausschluss der Heimaths- und Niederlassungs-Verhältnisse, desgleichen über die Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern;

2. die Zoll- und Handelsgesetzgebung und die für die Zwecke des Reichs zu
verwendenden Steuern;

3. die Ordnung des Maß-, Münz- und Gewichtssystems, nebst Feststellung der
Grundsätze über die Emission von fundiertem und unfundiertem Papiergelde;

4. die allgemeinen Bestimmungen über das Bankwesen;

5. die Erfindungspatente;

6. der Schutz des geistigen Eigentums;

7. Organisation eines gemeinsamen Schutzes des Deutschen Handels im Auslande,
der Deutschen Schiffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung gemeinsamer
konsularischer Vertretung, welche vom Reiche ausgestattet wird;

8. das Eisenbahnwesen, in Bayern vorbehaltlich der Bestimmung im Artikel 46., und
die Herstellung von Land- und Wasserstraßen im Interesse der Landesvertheidigung
und des allgemeinen Verkehrs;

9. der Flößerei- und Schiffahrtsbetrieb auf den mehreren Staaten gemeinsamen
Wasserstraßen und der Zustand der letzteren, sowie die Fluß- und sonstigen
Wasserzölle; „desgleichen die Seeschifffahrtszeichen (Leuchtfeuer, Tonnen, Balken und sonstige Tagesmarken.

10. das Post- und Telegraphenwesen, jedoch in Bayern und Württemberg nur nach
Maßgabe der Bestimmung im Artikel 52.;

11. Bestimmungen über die wechselseitige Vollstreckung von Erkenntnissen in
Civilsachen und Erledigung von Requisitionen überhaupt;

12. sowie über die Beglaubigung von öffentlichen Urkunden;

13. die gemeinsame Gesetzgebung über das Obligationenrecht, Strafrecht, Handels-
und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren;

14. das Militairwesen des Reichs und die Kriegsmarine;

15. Maßregeln der Medizinal- und Veterinairpolizei;

16. die Bestimmungen über die Presse und das Vereinswesen.

Die Befugnis des Reiches zur Gesetzgebung ist grundsätzlich eine ausschließliche, nur in einigen Materien eine mit dem Gesetzgebungsrechte der Einzelstaaten konkurrierende. Von den vorgedachten Gegenständen sind nach dem Wortlaute der Verfassung der ausschließlichen Gesetzgebung des Reiches überwiesen: a) die Gesetzgebung über das gesamte Zollwesen und die für die Zwecke des Reiches zu verwendenden Steuern (Art. 4 Nr. 2 der Reichsverf.), insbesondere also auch über die Besteuerung des im Reichsgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen dargestellen Zuckers und Sirups, den gegenseitigen Schutz der in den einzelnen Bundesstaaten erhobenen Verbrauchsabgaben gegen Hinterziehungen, sowie Maßregeln, welche in den Zollausschüssen zur Sicherung der gemeinschaftlichen Zollgrenze erforderlich sind (Art. 35, Abs. 1 a.a.O.); b) die Gesetzgebung über das Militairwesen und die Kriegsmarine des Reiches (Art. 4, Nr. 14, Art. 53, 57-68 a.a.O.); c) die Gesetzgebung über das Post- und Telegraphenwesen (Art. 4, Nr. 10, Art. 48 und 50 a.a.O.); d) die Gesetzgebung über die Organisation eines Schutzes des deutschen Handels im Auslande, der deutschen Schiffahrt und ihrer Flagge zur See und konsularische Vertretung (Art. 4, Nr. 7 und Art. 54 und 56).

Auf diesen zur ausschließlichen Zuständigkeit des Reiches gehörigen Gebieten besteht kein Gesetzgebungsrecht der Einzelstaaten, mithin auch diejenige Preußens, jeder Tätigkeit, auch hinsichtlich solcher Punkte, welche das Reich gesetzlich nicht geregelt hat, enthalten; es ist ihr hier nur insoweit noch eine Wirksamkeit gestattet, als die Reichsgesetzgebung selbst dies ausdrücklich zulässt oder auf die Landesgesetzgebung Bezug nimmt; jedes diese Grenze überschreitende Landesgesetz ist unstatthaft und rechtlich unwirksam. Aber auch die übrigen im Artikel 4 der Reichsverfassung aufgeführten Angelegenheiten unterliegen nicht etwa einer nur falkultativen Gesetzgebungskompetenz des Reiches; es ist nicht etwa dem Reiche freigestellt, diese Angelegenheiten zum Gegenstande der Reichsgesetzgebung zu machen oder nicht; vielmehr war es unzweifelhaft bei Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates als Pflicht des Reiches gedacht, diese Gegenstände einheitlich durch seine Gesetzgebung mit zwingender Rechtsverbindlichkeit zu regeln. Solange allerdings das Reich von dieser Befugnis keinen Gebrauch gemacht hat, bleiben nicht nur die für diese Materien in den Einzelstaaten geltenden Rechtsvorschriften in Kraft, sondern es können dieselben auch auch von dem Einzelstaate im Wege der Landesgesetzgebung und – soweit dies nach dem Verfassungsrechte des betreffenden Einzelstaates zulässig ist – im Wege der Landesverordnung aufgehoben oder abgeändert werden.

Sobald jedoch das Reich von der ihm zustehenden Befugnis Gebrauch macht, treten die auf denselben Gegenstand bezüglichen Vorschriften des Landesrechtes außer Kraft, einerlei ob sie den Bestimmungen des Reichsgesetzes widersprechen oder mit demselben übereinstimmen. Das Reich ist sowohl berechtigt, die Materie ganz und in allen Einzelheiten zu regeln, als auch sich nur auf die Regelung einzelner Teile, oder auf die Aufstellung allgemeiner Grundsätze zu beschränken und die nähere Ausführung der Landesgesetzgebung zu überweisen; auch steht dem Reiche unzweifelhaft jederzeit das Recht zu, einen vorläufig nur teilweise reichsrechtlich geordneten Gegenstand später vollständig zu regeln. Die vollständige Ordnung eines Rechtsgebietes durch die Reichsgesetzgebung hebt das gesamte darauf bezügliche Landesrecht auf und schließt alle fernere Tätigkeit der Landesgesetzgebung auf diesem Gebiete aus; bezieht sich dagegen das Reichsgesetz nur auf einzelne Punkte eines Rechtsgebietes, so behält das Landesgesetz hinsichtlich der nicht durch das Reichsgesetz betroffenen Teile seine Wirksamkeit, und es bleibt eine landesgesetzliche Tätigkeit innerhalb der reichsgesetzlichen Schranken möglich, vorausgesetzt jedoch, dass nicht aus dem Reichsgesetze die Absicht der Reichsgesetzgebung erhellt, die nicht von ihm betroffenen Teile von jeder gesetzlichen Regelung prinzipiell auszuschließen.

All diejenigen Gebiete, welche nach der Reichsverfassung oder den auf Grund derselben ergangenen Reichsgesetzen der Kompetenz des Reiches nicht überwiesen sind, unterliegen der Gesetzgebungskompetenz der Einzelstaaten, deren Zuständigkeit folglich überall subsidiär da eintritt, wo ein die Zuständigkeit des Reiches begründender Rechtssatz nicht besteht; es kann jedoch die Gesetzgebungskompetenz des Reiches jederzeit durch ein nach den Vorschriften des Artikel 70 der Reichsverfassung zu stande gekommenes, die Reichsverfassung abänderndes Reichsgesetz erweitert, beziehungsweise die Kompetenz der Einzelstaaten beschränkt werden.

Das Verhältnis der Reichsgesetz zu den Landesgesetzen der Einzelstaaten bestimmt sich im allgemeinen durch den im Artikel 2 der Reichsverfassung ausgesprochenen Grundsatz, „dass die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen„, und zwar hat diese Regel die Wirkung, dass alle Bestimmungen der Landesgesetze außer Geltung treten, welche durch das Reichsgesetz entweder ausdrücklich für aufgehoben erklärt worden oder mit dem Reichsgesetze unvereinbar sind. Diese Wirkung tritt ipso jure, auch ohne einen ausdrücklich aufhebenden Akt der Gesetzgebung ein; die Einzelstaaten brauchen also ihre durch Reichsgesetz aufgehobenen Gesetze nicht nochmals durch ein Landesgesetz außer Wirksamkeit zu setzen. Unter den „Landesgesetzen“, welchen zufolge der Bestimmung des Art. 2 der Reichsverfassung durch Reichsgesetze derogiert wird, sind aber nicht bloß die eigentlichen Gesetze, sondern auch die Landesverordnungen, sowie auch das in einem Einzelstaate bestehende Landesgewohnheitsrecht begriffen, und auch den ortsstatutarischen Bestimmungen innerhalb des Reichsgebietes gehen die Reichsgesetze vor. Andererseits kommt der Vorrang vor den Landesgesetzen nicht bloß den eigentlichen, d.h. unter Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages erlassenen Reichsgesetzen, sondern auch solchen Reichsverordnungen zu, welche rechtsgültig erlassen worden sind.

Der Grundsatz der Reichsverfassung, dass die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, bezieht sich ferner nicht bloß auf die einfachen Gesetze und die Verordnungen der Einzelstaaten, sondern auch auf die Verfassungen und Verfassungsgesetze derselben. Auch diese letzteren sind durch die Verfassung des Reiches, als des obersten Grundgesetzes sämtlicher Einzelstaaten, insoweit für aufgehoben oder abgeändert zu erachten, als dieselben mit ihr im Widerspruche stehen oder nicht vereinbar sind, und auch bezüglich aller nach Emanation der Reichsverfassung erlassenen, beziehungsweise auf Grund derselben bereits erlassenen oder künftig zu erlassenden Reichsgesetze gilt der Grundsatz, dass dieselben die Kraft und Wirksamkeit haben, mit ihnen nicht vereinbare Bestimmungen der Landesverfassungsgesetze außer Geltung zu setzen. Zufolge des Grundsatzes des Art. 2 der Reichsverfassung können also nicht bloß die Gesetze und Verordnungen der Einzelstaaten, sondern auch Bestimmungen der Verfassungsurkunden und Verfassungsgesetze derselben sowohl durch Reichsverfassungsgesetze als auch durch gewöhnliche Reichsgesetze abgeändert oder beseitigt werden; denn der Art. 2 der Reichsverfassung disponiert ganz allgemein, dass Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, ohne zu unterscheiden zwischen einfachen Landesgesetzen und Landesverfassungsgesetzen.

Die Richtigkeit dieser Ansicht findet auch darin eine Unterstützung, dass nach Abs. 2 des Artikel 76 der Reichsverfassung Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, in dem Falle, wenn der Bundesrat solche nicht gütlich auszugleichen vermag, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung gebracht werden müssen. Die Reichsverfassung erkennt hierdurch den Grundsatz an, dass die Reichsgewalt als die höchste souveräne Gewalt über den einzelnen Bundesstaaten steht, und da die „Erledigung“ der Verfassungsstreitigkeit auch durch Veränderung oder durch Außerkraftsetzung des bestehenden Verfassungsrechtes für den gegebenen Fall erfolgen kann, so kann nicht bestritten werden, dass auch einem auf Grund des Abs. 2 des Art. 76 der Reichsverfassung zu stande gekommenen Reichsgesetze die durch den Art. 2 der Reichsverfassung allen Reichsgesetzen beigelegte Wirkung, dass sie den Landesgesetzen derogieren, zukommt, also auch die Wirkung, das bisher bestandene Verfassungsrecht eines Einzelstaates nicht bloß authentisch zu interpretieren, sondern dasselbe auch abzuändern.

Die Reichsverfassung enthält keine ausdrückliche Vorschrift über die Frage, wem die Entscheidung darüber zusteht, ob und inwieweit ein Landesgesetz durch die Reichsgesetzgebung für aufgehoben zu erachten sei. Wenn das Reichsgesetz die Aufhebung des Landesgesetzes nicht ausdrücklich ausspricht, so kann es zunächst nicht zweifelhaft sein, dass es zuvörderst Pflicht der einzelnen Landesregierungen ist, etwa bestehende Antinomien zwischen dem Reichsrechte und dem Landesrechte dadurch zu beseitigen, dass für Aufhebung der mit dem Reichsrechte nicht vereinbaren landesrechtlichen Bestimmungen, möge sie auf Gesetz oder Verordnung beruhen, auf landesverfassungsmäßigem Wege Sorge getragen wird. Sofern dies aber unterlassen werden sollte, kann auch darüber kein Zweifel obwalten, dass die zur Anwendung der Gesetze berufenen Organe, sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsinstanzen, das Recht und die Pflicht haben, in allen zu ihrer Kognition gelangenden einzelnen Fällen sich der Prüfung und Entscheidung über die Frage zu unterziehen, ob eine landesrechtliche Vorschrift dem Reichsrechte zuwiderläuft, beziehungsweise mit diesem unvereinbar ist, und hierbei von dem Grundsatze des Artikel 2 der Reichsverfassung auszugehen, dass sie keine dem Reichsrechte zuwiderlaufende Norm des Landesrechtes anwenden dürfen.

Die Pflicht haben aber nicht bloß die vom Reiche selbst bestellten Reichsbeamten und Reichsbehörden, welchen die Wahrung der Gerechtsame des Reiches unmittelbar übertragen ist, sondern gleichmäßig auch die Behörden und Beamten der Einzelstaaten, welche nicht bloß zu richtigen Anwendung der landesrechtlichen Vorschriften, sondern auch zur Anwendung und gehörigen Befolgung der Verfassung und der Gesetze des Reiches verbunden sind. Allein die Gerichtshöfe können nur innerhalb ihrer Zuständigkeit eine Remedur bewirken, und ihre Entscheidungen können nur Wirksamkeit haben für den der Entscheidung unterbreiteten speziellen Fall. Wenn aber bezüglich der Frage, ob ein Gesetz oder eine Verordnung eines Einzelstaates mit der Reichsverfassung oder einem Reichsgesetze in Widerspruch steht, Meinungsverschiedenheit zwischen der Reichsregierung und derjenigen des Einzelstaates besteht, so ist die Frage zunächst im Bundesrate zur Erörterung zu bringen, welcher nach Art. 7, Abs. 1, Ziffer 3 der Reichsverfassung berufen ist, über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze hervortreten, Beschluss zu fassen. Dem betreffenden Beschlusse des Bundesrates muss die Einzelstaatenregierung Folge leisten und kann hierzu, wenn die Voraussetzungen des Art. 19 der Reichsverfassung vorliegen, auch im Wege der Reichsexekution angehalten werden. Eventuell müssen solche Streitfragen auf dem Wege der authentischen Interpretation durch die Reichsgesetzgebung zur Erledigung gebracht werden.

IV. Die vollziehende Gewalt des Reiches, die sogenannte Exekutive, bezieht sich teils auf die inneren, teils auf die äußeren Angelegenheiten desselben. Die inneren Angelegenheiten betreffend, so nimmt das Reich in der Regel neben dem Rechte der Gesetzgebung nur das Recht der Oberaufsicht für sich in Anspruch, indem es die Ausführung der Reichsgesetze der Verwaltung der Einzelstaaten überlässt; für einen gewissen Kreis dieser Angelegenheiten aber hat das Reich selbst die eigene und unmittelbare Verwaltung übernommen.

In alle Angelegenheiten, welche nach Art. 4 der Reichsverfassung der Gesetzgebung des Reiches unterliegen, steht diesem auch die Beaufsichtigung zu, und zufolge des Art. 17 a.a.O. steht die Überwachung der Ausführung der vom Kaiser verkündigten Reichsgesetze dem letzteren zu. Demzufolge unterliegt auch insoweit, als die Ausführung der erlassenen und Verordnungen den Einzelstaaten und deren Behörden zukommt, deren gesamte Tätigkeit der Überwachung seitens der Reichsgewalt, welcher letzteren auch bezüglich derjenigen Gegenstände, deren gesetzliche Regelung sie noch nicht unternommen hat, in betreff der der zu ihrer Zuständigkeit gehörigen Angelegenheiten die Aufsicht über die Einzelstaaten zusteht. Abgesehen von der durch Artikel 17 a.a.O. dem Kaiser übertragenen Überwachung, gebührt aber auch dem Bundesrate eine wesentliche Beteiligung bei der Aufsicht über die Ausführung der Reichsgesetze. Der Art. 7 der Reichsverfassung bestimmt nämlich in Absatz 1 unter Ziffer 2 und 3, dass der Bundesrat a) über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas anderes bestimmt ist, und b) über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der vorgedachten Vorschriften oder Einrichtungen hervortreten, zu beschließen hat.

Es steht also dem Bundesrate außer der Teilnahme an der Gesetzgebung des Reiches auch die materielle Entscheidung über die Anwendung und Ausführung der Reichsgesetze und Verwaltungsvorschriften zu; er hat demnach insbesondere das Recht, den Regierungen der Einzelstaaten und deren Behörden gegenüber die richtige Anwendung und Ausführung der Reichsgesetze festzustellen, und kann hierüber sowohl auf Antrag des Reichskanzlers, als auf Beschwerde Beteiligter, als auch aus eigener Bewegung Beschluss fassen. Diese Beschlüsse kann indes der Bundesrat nicht selbst zur Ausführung bringen, sondern die tatsächliche Vollziehung derselben wird durch den Reichskanzler vermittelt. Diese Aufsicht und Überwachung aber haben der Kaiser und der Bundesrat bezüglich sämtlicher Staaten des Bundes, also auch gegenüber dem Preußischen Staate und den Behörden desselben auszuüben.

Zu denjenigen Gebieten der vollziehenden Gewalt, auf welchen das Reich sich nicht auf die Beaufsichtigung und Überwachung von Einzelstaaten beschränkt, sondern selbst die unmittelbare Verwaltung führt, gehört die Kriegsmarine, das Gesandtschaftswesen, das Kolonialwesen, das Konsulatswesen, das Post- und Telegraphenwesen und teilweise auch das Eisenbahnwesen. Allein nur bei der Kriegsmarine erfolgt diese Reichsverwaltung mit vollständigem Ausschlusse der Einzelstaaten, wogegen bei den übrigen Angelegenheiten ein mehr oder minder weitgehende Beteiligung der Einzelstaatsregierungen stattfindet.


Dr. Ludwig Rönne schildert hier im Groben, wie der Gesamtsstaat Deutsches Reich funktioniert. Da die Reichsverfassung das höchste Gesetz aller Deutschen ist, sollten alle Deutschen sich näher mit ihr beschäftigen. Dazu möchten wir unseren Lesern das Buch „Unsere Reichsverfassung und deutsche Landesverfassungen“ von Emil Bazille empfehlen – es stellt die Organisation und Besonderheiten des Deutschen Reiches in einfacher Sprache sehr gut dar.

Abschließen möchten wir mit den Worten Hans Delbrücks, der sich Anfang des zwangzigsten Jahrhunderts eingehend mit verschiedensten Staatsformen und Verfassungen beschäftigt hat und in seinem darüber verfassten Buch „Goverment and the will of the people“ (zu deutsch: Regierung und der Wille des Volkes), erschienen 1913 in New York zu folgendem Urteil kommt: „Deutschland hat die beste Regierungsform der Welt.

Kaiser Wilhelm II. zur Eröffnung des Reichstagsgebäudes

Kaiser Wilhelm II. zur Eröffnung des Reichstagsgebäudes am 25. Juni 1888.

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